11. Dezember 2008

Sensationelle Startbedingungen für Biblis-Klage vor dem Hessischen Verwaltungsgerichtshof

Von: IPPNW

„Es dürfte einzigartig in einer atomrechtlichen Auseinandersetzung sein, dass der zentrale Vorwurf der Kläger von der beklagten Atomaufsichtsbehörde ausdrücklich zugegeben wird“, erklärte die Dortmunder Rechtsanwältin Wiltrud Rülle-Hengesbach am 12. Dezember anlässlich des Einreichens der Klagebegründung beim Hessischen Verwaltungsgerichtshof zur Stilllegung des Atomkraftwerkblocks Biblis B.

„Da das hessische Umweltministerium in einem Vermerk vom 19. September 2005 selbst einräumt, dass das Atomkraftwerk Biblis "selbstverständlich nicht dem heutigen aktuellen Stand von Wissenschaft und Technik entspricht", die Anlage also sicherheitstechnisch veraltet und faktisch auch nicht nachrüstungsfähig ist, liegen die Tatbestandsvoraussetzungen für einen Widerruf der Genehmigung von Biblis B laut Atomgesetz unstreitig vor“, sagte Rülle-Hengesbach im Namen von drei Klägern, die Mitglieder der atomkritischen Ärzteorganisation IPPNW bzw. der Bürgerinitiative „Biblis abschalten“ sind. Die Klage umfasst insgesamt mehr als 350 Seiten. Laut Klagebegründung gibt sogar der Biblis-Betreiber RWE zu, dass die Anlage sicherheitstechnisch „altert“ und insofern nicht mehr dem aktuellen Stand von Wissenschaft und Technik entspricht.

„Unsere Ausgangsposition vor Gericht ist insofern nicht schlecht“, so Rülle-Hengesbach. „Da die Tatbestandsseite unstreitig ist, werden wir uns vor dem Verwaltungsgerichtshof in Kassel nur noch über die so genannte Rechtsfolgenseite auseinandersetzen müssen, d. h. über die Frage, ob das Atomkraftwerk zwingend stillzulegen ist oder ob die Behörde, wie sie glaubt, im Rahmen einer Ermessensentscheidung die sicherheitstechnisch völlig veraltete Anlage dennoch weiterlaufen lassen darf.“ Eine Ermessensentscheidung zugunsten des Weiterbetriebs ist nach Aussage der Rechtsanwältin aber nicht rechtmäßig, weil nach dem Kalkar-Urteil des Bundesverfassungsgerichts durch den Wegfall einer Risikovorsorge nach dem Stand von Wissenschaft und Technik „überragend wichtige Grundrechte der Kläger und der Allgemeinheit“ verletzt würden und „das Ermessen der Behörde insofern auf Null reduziert ist. Ein Bestandsschutz für gefährliche Altmeiler ist mit dem geltenden Atomgesetz nicht vereinbar und wurde auch vom Bundesverwaltungsgericht im Whyl-Urteil verneint“, so Rülle-Hengesbach.

Die hessische Atomaufsicht sei nach Auffassung der Kläger auch deswegen zur Stilllegung von Biblis B gezwungen, weil wegen der vielen Sicherheitsmängel bei der Störfallbeherrschung eine Gefahr im Sinne des Atomgesetzes vorliege. Der Atomenergie-Experte der IPPNW, Henrik Paulitz, hat als Sachbeistand in dem Rechtsstreit 210 schwerwiegende Sicherheitsmängel von Biblis B dokumentiert. „Wir stützen uns hierbei insbesondere auf Bewertungen der Gesellschaft für Reaktorsicherheit und des TÜV Süd. Das sind die Hausgutachter der Atomaufsicht des Bundes und des Landes Hessen. Wir tragen also nur die sicherheitstechnischen Mängel vor Gericht vor, die die Experten der Behörden selbst sehen“, so Paulitz. „Es dürfte die Richter des Verwaltungsgerichtshofs in Kassel kaum überzeugen, wenn die hessische Atomaufsicht sicherheitstechnische Bewertungen der eigenen Gutachter abstreiten oder relativieren will.“

Paulitz verweist auf 20 Mängel bei der Beherrschung der gefährlichen „kleinen Lecks“, auf 17 Mängel bezüglich der hochkomplexen Abläufe bei einem „Dampferzeuger-Heizrohrleck“ und auf 24 Sicherheitsmängel bezüglich des gefürchteten Notstromfalls. Ein sehr kleines Primärkreisleck 1995, eine Dampferzeuger-Kleinstleckage 1998 und die wiederholten Notstromfälle – zuletzt am 8. Februar 2004 infolge eines Unwetters – machen laut Paulitz deutlich, dass es in Biblis B jederzeit zur Atomkatastrophe kommen kann.

Nach einem aktuellen Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 10. April 2008 sind Atomkraftwerke nicht nur gegen Auslegungsstörfälle, sondern auch gegen „auslegungsüberschreitende Ereignisse“ zu schützen. „Die katastrophal schlechte Kernschmelzfestigkeit und der völlig unzureichende Schutz gegen Störfälle mit Ausfall der Reaktorschnellabschaltung bekommen so vor dem Gerichtshof in Kassel vermutlich ein sehr viel größeres Gewicht als bisher gedacht“, so Paulitz. „Das Gericht dürfte in diesem Zusammenhang auch den OECD-Bericht von 1997 würdigen, in dem die deutsche Anlage Biblis B im internationalen Vergleich am schlechtesten abschneidet.“

Rechtsanwältin Rülle-Hengesbach verweist ferner darauf, dass nach dem Whyl-Urteil des Bundesverwaltungsgerichts die Atomaufsicht „Gefahren“ durch „hinreichend konservative Annahmen“ ausschließen muss. „Da unter anderem der Erdbebenauslegung von Biblis B keine konservativen Annahmen zugrunde liegen, besteht eine Gefahr im Sinne des Atomgesetzes“, so Rülle-Hengesbach. Paulitz erläutert, dass die hessische Atomaufsicht lediglich einen Schutz gegen die schwächere Hälfte der am Standort Biblis möglichen Erdbeben verlangt. „Im Fachjargon heißt das, dass die Begutachtung der Erdbebenfestigkeit lediglich auf der Basis der 50%-Fraktilen erfolgt“, so Paulitz. „Der eigene Erdbeben-Gutachter der Behörde, die Reaktorsicherheitskommission wie auch das Oberlandesgericht Rheinland-Pfalz haben aber übereinstimmend festgestellt, dass die Verwendung der 50-%-Fraktile nicht konservativ ist“. Das Atomkraftwerk Mülheim-Kärlich sei deswegen stillgelegt worden. „Die Stilllegung wurde durch eine Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts rechtskräftig“, betont Rülle-Hengesbach. „Das zeigt, dass es rein willkürlich wäre, Biblis B unter den gleichen Voraussetzungen wie Mülheim-Kärlich nicht stillzulegen.“

Die Atomkritiker der Ärzteorganisation IPPNW haben die Klage zur Stilllegung von Biblis B viele Jahre lang gründlich vorbereitet. „Allein zwei Jahre lang dauerte das Ringen mit der hessischen Atomaufsicht um den Zugang zu ausgewählten Behördenakten“, so Paulitz, der inzwischen auch Einsicht in die Verfahrensakten nehmen konnte. Er stellte dabei fest, dass die Behörde die Einsicht in Akten zur Sicherheit von Biblis B deswegen massiv behinderte, damit die IPPNW nicht „in die Lage versetzt“ werde, die Klage möglicherweise noch „besser zu begründen“, wie einer behörden-internen Email zu entnehmen war. „Trotz der willkürlichen Behinderungen durch die Behörde waren wir bei der Akteneinsichtnahme und bei unseren sonstigen Recherchen dennoch erfolgreich“, so Paulitz.

Man könne aufzeigen, dass der Biblis-Betreiber RWE nicht zuverlässig sei. Nach dem Atomgesetz dürfen aber noch nicht einmal Tatsachen vorliegen, wonach Zweifel („Bedenken“) an der Zuverlässigkeit des Betreibers bestehen. Tatsache sei aber, dass RWE wiederholt aus Gefahrenhinweisen nicht die erforderlichen Konsequenzen gezogen habe. Die IPPNW hält RWE weiterhin vor, die Anlage zu selten und sogar mit ungeeigneten Methoden zu untersuchen, bei sicherheitsrelevanten Arbeiten beständig schwerwiegende Fehler zu machen, erforderliche Nachrüstungen jahrelang zu verschleppen oder überhaupt nicht durchzuführen. Auch hätte RWE selbst längst die Stilllegung von Biblis B beantragen müssen, weil die Anlage gravierend vom Stand von Wissenschaft und Technik abweicht. Verwiesen wird ferner darauf, dass die Atomaufsicht selbst, Gutachter und alle Landtagsfraktionen immer wieder schwere Vorwürfe gegen RWE erheben.

„Wir wollen das Gericht davon überzeugen, dass Biblis B aus ganz unterschiedlichen Gründen nach geltendem Recht stillgelegt werden muss“, so Paulitz. Es werde auch die unzureichende Deckungsvorsorge angesprochen. „Selbst die Juristen der Bundesatomaufsicht halten es für nicht rechtmäßig, dass nach einem Atomunfall noch nicht einmal 0,1 Prozent der finanziellen Schäden ausgeglichen werden können. Das wurde auf den offiziellen Atomrechtssymposien immer wieder festgehalten“, so Paulitz.

Kontakt:

  • Rechtsanwältin Wiltrud Rülle-Hengesbach, Dortmund, Tel. 0231-57 40 81
  • Henrik Paulitz, Atomenergie-Experte der IPPNW, Tel. 0171-53 888 22